Rezensionen und Besprechungen

Europas letzter Sommer
Die Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
F.A.Z., 29.08.2009

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Dass ein so hervorragender Dokumentarfilm wie “Sommer ‘39″ von Mathias Haentjes und Nina Koshofer an einem Montag um 23.15 Uhr ausgestrahlt wird, ist sicher ein Ärgernis. Und doch kann man dem wenig attraktiven Sendeplatz diesmal ausnahmsweise etwas abgewinnen, leitet die neunzigminütige Produktion, die den letztlich unbegreifbaren Übergang vom Frieden zum Krieg thematisiert, damit doch selbst zu dem historischen Datum des siebzigsten Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen über. Lange war dieser Angriff erwartet worden, meist befürchtet, mitunter auch herbeigesehnt, wie Marcel Reich-Ranicki erzählt. Und doch waren die Zeitgenossen überrumpelt, als er schließlich stattfand: einfach so, an einem wunderschönen Sommertag des Jahres 1939, dem in ganz Europa ein ungewöhnlich heißer Sommer vorausgegangen war.

Es sind diese Vorkriegsmonate voller Anspannung und trotziger Sommerlaune, welche die Filmemacher in den Mittelpunkt ihres Films stellen – eine wunderbare Idee, weil nur so auch das Flirrende, das Unwahrscheinliche der Geschichte ins Recht gesetzt wird. Historische Kausalität ist schließlich immer auch ein Stück weit ätiologische Legende, keine Epoche nur Präludium. Im Rückblick auf die dreißiger Jahre hat sich subkutan ein Determinismus eingeschlichen, der erst dann auffällt, wenn ihn jemand in Frage stellt.

Allseits bekannt sind die propagandistisch aufpolierten, auch hier zu sehenden Mitschnitte aus der politischen Sphäre, deren Bildsprache und Rhetorik es dem heutigen Betrachter leichtmachen, sich unendlich weit von ihnen entfernt zu wähnen. Dem aber kontrastiert die Dokumentation nun erstaunliches, oft sogar farbiges Bildmaterial, das die lebensweltliche Wirklichkeit des Jahres 1939 abbildet und auf eine fast beängstigende Art die Distanz reduziert: Sehr ähnlich könnte man heute im Café sitzen, tanzen, baden, promenieren. Und auch das, was aufstoßen mag an den Aufnahmen aus Deutschland, die Eingeschnürtheit der Damen etwa, erklärt nicht der zeitliche Abstand. Sie hat vielmehr schon damalige Beobachter wie den CBS-Reporter William Shirer verdutzt: “Wieder überrascht von der Hässlichkeit der deutschen Frauen.” Sie kleideten sich schlimmer als Engländerinnen: “In ihrer Art sind sie sicher am unattraktivsten in ganz Europa.”

Trotz der allgemeinen Kriegsangst fuhr man in den Urlaub in diesem Sommer. Man gönnte sich eine letzte Auszeit, nicht nur in Frankreich, wo man vor der Kriegsgefahr lange die Augen verschloss, wie der Journalist Pierre Daix und die französische Schriftstellerin Madeleine Riffaud berichten, sondern auch im höchst alarmierten England, im bedrohten Polen und auch im waffenstarrenden Deutschland selbst. Auf den zeitgenössischen Aufnahmen sieht man, wie sich Menschen in ganz Europa am Meer vergnügen – und weiß zugleich, eine tödliche Welle wird all dies wenig später hinwegspülen.

Schon nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen im Jahre 1938 und der kurz darauf erfolgenden Besetzung der “Rest-Tschechei”, spätestens aber nach dem allen ideologischen Indoktrinationen Hohn sprechenden Hitler-Stalin-Pakt zweifelte wohl absolut niemand mehr an den Expansionsplänen Deutschlands im Osten Europas, wie die hochkarätigen Interviewpartner ein ums andere Mal deutlich machen. Der tschechische Schriftsteller Pavel Kohout erzählt, wie die neuen Herren sich der Geschichte bemächtigten. Die Schüler mussten ihre Bücher selbst zensieren: “Die Schulbücher aus dem ersten und zweiten Jahr der Okkupation waren eigentlich halb schwarz.” Wider besseres Wissen also, so der britische Fernsehkomiker Dennis Norden, habe man Hitler noch lange als Clown sehen wollen.

Es gelingt diesem Film, die eigentümliche Melange aus Verdrängung und Furcht verständlich zu machen, die am Vorabend des Krieges in allen Ländern Europas – inklusive Deutschlands – verbreitet war und sich oft nur dadurch unterschied, auf welche Hoffnungsträger man irrationaler Weise setzte: auf den gottgleichen Führer, dessen verführerische Aura die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen beschreibt, oder auf den Widerstandsgeist des Volkes, dessen Beschwörung Wladislaw Bartoszewski, der spätere Außenminister Polens, skizziert. In den Morgenstunden des 1. September zerbrachen dann alle Hoffnungen. Wo der Sommernachtsalbtraum beginnt, endet dieser beeindruckende Film. 

OLIVER JUNGEN

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