Rezensionen und Besprechungen

Kein Summer of Love
Eine Dokumentation zeigt Europa am Vorabend des Krieges:
die tageszeitung, 31.8.2009

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“Hier ist der Deutschlandsender mit dem Nachrichtendienst. Wetterbericht. In Berlin, in Ostpreußen und in Schlesien überwiegend heiter, trocken und sehr warm.“ Der Sound aus dem Archiv untermalt die passenden Bilder aus dem Archiv: Farbaufnahmen fröhlicher, unbeschwerter Menschen am Meer. Hochsommer, Ferienzeit, alles ganz harmlos.

Als der Nachrichtensprecher vom Tagesgeschäft des „Führers“ berichtet, kippt die Musik, ein ganz klein wenig nur, ein am Himmel vorbei fliegendes Flugzeug rückt in den Fokus, es könnte sich um eine Militärmaschine handeln. Im Sand, zwischen den braven Familienurlaubern: Hakenkreuzfähnchen.

Ein Schauer für den Zuschauerrücken, mit allen Mitteln der Filmkunst sorgsam inszeniert. Die Dokumentarfilmer von heute sind keine langweiligen Pädagogen, ihren Hitchcock haben sie studiert, wissen um die Funktionsweise des Suspense. Stimme aus dem Off: „Der Sommer `39 ist in Europa ungewöhnlich heiß. Die Menschen wollen leben und lieben, arbeiten und sich amüsieren.“ Nächster Schauer.

Der Zuschauer weiß ja, was die Sommerfrischler vor 70 Jahren noch nicht wussten. Er weiß, was kommt: 55 Millionen Leichen. Genregesetz, altbewährte Thriller-Strategie: Der Zuschauer weiß um das dräuende Unheil, er sieht den Mörder schon, während das Opfer noch ganz ahnungslos ist.

Ganz so ahnungslos wie es die Genrekonvention erfordert, können die Menschen zur Jahresmitte 1939 natürlich nicht mehr gewesen sein. Die seriösen Geschichtsfernsehmacher wissen das und treiben es mit den Anleihen beim Spielfilm folglich nicht zu weit. Und es ist ja auch sofort plausibel, dass die Menschen in Europa, denen der Erste Weltkrieg noch in den Knochen steckte, vieles einfach nicht sehen wollten: „Wir verfolgten die politischen Ereignisse – aber es kam nicht in Frage, sich keinen Urlaub zu gönnen“, sagt einer der befragten Zeitzeugen, der Résistance-Aktivist Pierre Daix.

Auch das ist übrigens eine seit vielen Jahren gepflegte filmische Konvention: das Zeitzeugeninterview als unverzichtbarer Bestandteil jener spezifischen Melange aus knisterndem Wochenschaufilm und gefühligem Off-Kommentar, letzterer das pathetische Potential des Futur gerne ausschöpfend: „Aber dazu wird es nicht mehr kommen“, der Satz fällt gefühlte zwanzig Mal. Guido Knopp hat übrigens, soweit bekannt, mit dem vorliegenden WDR-Film nichts zu tun.

Das Zeitzeugeninterview: Was ist besser als ein Zeitzeuge? Ein prominenter Zeitzeuge! Auch in dieser Hinsicht hat die Dokumentation in Spielfilmlänge einiges zu bieten, vor allem der Bildungsbürger darf sich über ein Wiedersehen mit Marcel Reich-Ranicki, Pavel Kohout, Andrzej Wajda, Margarete Mitscherlich-Nielsen und vielen, vielen mehr freuen. Die in Ehren ergrauten Damen und Herren waren damals, im Sommer `39, allesamt Teens und Twens und wissen tatsächlich Spannendes zu erzählen. Es sind ihre Kommentare, die die Dokumentation über den Durchschnitt des Geschichtsfernsehens hebt, das uns in diesem Jubiläumssommer `09 mit verstärkter Anstrengung den Kriegsbeginn erklärt.

Andere Filmemacher hätten möglicherweise der Versuchung nicht widerstanden, die Zeitzeugengeschichten mit Schauspielern nachzustellen – auch so eine Genrekonvention. Aber manchmal ist weniger sogar im Fernsehen mehr, Mathias Haentjes und Nina Koshofer, so heißen die Autoren, wissen das, weshalb wir ihnen Dank und, wichtiger noch, Aufmerksamkeit schulden. Und gewiss wird sich der Videomitschnitt im Schulunterricht der Sekundarstufe I bestens bewähren.

Jens Müller

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